Sind introvertierte Menschen die besseren Führungskräfte?

Extrovertiert = Erfolgreich?

Jüngst googelte ich für eine Präsentation, die ich mit einer Übung praxisnäher gestalten wollte die Worte „Introversion, Extraversion, Übung“. Statt der gewünschten Rollenspiele, offenbarte sich mir eine Reihe an Übungen, die introvertierten Menschen verhelfen sollten endlich extrovertierter zu werden. Interessant, dachte ich mir. Nicht nur, dass es absurd erscheint ein Persönlichkeitsmerkmal, das von Geburt an festgelegt ist, verändern zu wollen. Es bestätigte mir außerdem, dass es eine sozial gewünschte Ausprägung im Extraversion-Introversionspektrum gibt. Insbesondere in der Arbeitswelt werden Eigenschaften, die typisch für Extrovertierte sind als relevanter für den Unternehmenserfolg eingeschätzt, als die Introvertierter. Wieso ist das eigentlich so? Gibt es Studien, die diese Wahrnehmung stützen?

Für die Beantwortung dieser Frage habe ich einen Blick in die Bibel der introvertierten Menschen – das Buch „Quiet“ von Susan Cain – geworfen und voller Freude und Neugier entdeckt, dass auch Psychologie Heute Compact den „Stillen“ eine ganze Ausgabe gewidmet hat. 

Disclaimer: Bevor wir mit diesem geballten Wissen gemeinsam tiefer in die Materie eintauchen, sei gesagt, dass es den Introvertierten und den Extrovertierten natürlich so nicht immer gibt. Vielmehr stellen diese beiden Ausprägungen die äußeren Merkmale einer Skala dar, die alle Farben des Regenbogens annehmen können. Um unseren inneren Kritiker mit dem erhobenem Zeigefinger gleich zu Beginn ruhig zu stellen, werde ich im Folgenden meine zwei Freunde Egon und Igor bemühen, die, wie der Zufall es so will ganz eindeutig extrovertiert und introvertiert sind!

Schauen wir uns nun die Arbeitswelt von Egon und Igor an. Beide haben eine mittlere Führungsposition inne und sind demselben Chef, Herr Boss, zugeordnet. In gemeinsamen Meetings schätzt Herr Boss, dass Egon häufig sowohl das Wort als auch die Initiative ergreift und Entscheidungen schnell fällt. Das schindet auch bei den Kollegen und Mitarbeitern Eindruck. Häufig bekommt er widergespiegelt, dass Egon für Höheres berufen ist und die Talente mitbringt, die eine Führungskraft braucht und daher weiter gefördert werden soll. 

Ist Egon deswegen die bessere Führungskraft?

Stoppen wir das Szenario hier für einen Moment. Egons Talent dafür, sich eine Bühne zu schaffen und Initiative zu zeigen wird in der Wahrnehmung der Mitarbeiter und Führungskräfte also als (unternehmens-)erfolgsrelevante Fähigkeiten wahrgenommen. Aber gibt es tatsächlich eine Korrelation zwischen Extraversion und der Güte als Führungskraft?

Sie ahnen es bereits, die Antwort lautet: jein! Bevor Sie nun entnervt den Artikel schließen: gerade in dieser Differenzierung kann der Schlüssel für Ihren Unternehmenserfolg liegen! Studien haben nämlich gezeigt, dass das ganz wesentlich davon abhängt, welche Art von Mitarbeiter zu führen ist. Für Mitarbeiter, die eher passiv sind und wenig Eigeninitiative zeigen, erreichen extrovertierte Mitarbeiter signifikant bessere Ergebnisse als introvertierte. Das liegt daran, dass sie  andere eher inspirieren können und durch ihre durchsetzungsstarke und entschiedene Art eine hohe Leistungsfähigkeit erreichen. So weit so bekannt. 

Interessant aber ist, dass introvertierte Führungskräfte dann bessere Ergebnisse erzielen, wenn ihre Mitarbeiter viel Eigeninitiative mitbringen. Führungskräfte wie Igor schaffen es dann nämlich durch ihr Talent zum Zuhören und die Fähigkeit, soziale Situationen nicht dominieren zu müssen, den Mitarbeitern genug Raum zu geben, deren Ideen umzusetzen. Gleichsam halten sie dabei aber den Rahmen, denn in letzter Instanz entscheiden sie und sind autonom in ihrem Urteil. 

Sowohl die introvertierten als auch die extrovertierten Mitarbeiter haben somit Stärken (und Schwächen), die für den Unternehmenserfolg förderlich oder hinderlich sein können. 

Fassen wir diese Stärken und Schwächen nochmal kurz zusammen:

Egon: Durchsetzungsstärke, Initiative, „Rampensau“ aber: großes Ego, tut sich schwer zuzuhören und Raum zur Eigeninitiative zu geben

Igor: guter Zuhörer, wird nicht durch sein Ego blockiert, tiefgängig, autonom in seinem Urteil, beharrlich, durchdacht aber: zu langsam und zu verkopft bei schnellen Entscheidungen, zurückhaltend in großen Meetings

Wieso gibt es eigentlich kein „Zuhörseminar“?

Zur Verbesserung seiner Arbeit werden Igor von Herr Boss regelmäßig Rhetorikseminare nahegelegt, damit er es endlich schafft aus sich herauszukommen. Igors Motivation dazu ist gering, denn er weiß, dass es egal ist, wieviele Rhetorikseminare er besucht, die Meetings wird er  nie so zur Bühne machen wie Egon. Die großartigen Ideen, die er hat, teilt er lieber im 1:1 Gespräch mit Herrn Boss – und nachdem er sie durchdacht hat. Er fühlt sich daher nicht „dafür gemacht“ die Karriereleiter weiter hinauf zu steigen. 

Beim Lesen wandern Ihre Augen vielleicht an dieser Stelle noch einmal zur Stärken/Schwächenliste der Beiden, die wir vorher aufgestellt haben. Wenn – wie die Studien gezeigt haben – doch sowohl die Stärken von Egon als auch die von Igor für den Unternehmenserfolg relevant sind, wieso wird Egon dann eigentlich nicht zum „Zuhörseminar“ geschickt? 

Weil – paradoxerweise auch geteilt von introvertierten Menschen – ein kultureller Bias zugunsten der Extraversion existiert, der die individuellen Meinungen der Menschen prägt. Aber…

Ist das Festhalten an extrovertierten Führungskulturen noch zeitgemäß?

Agilität und New Work. Ich weiß schon, Stichworte die durch ihre inflationäre Verwendung in dem ein oder anderen gewisse Widerstände auslösen. Gleichwohl darf dieses Themenfeld bei dieser Betrachtung nicht fehlen.  Denn in einem Arbeitsumfeld, in dem es verstärkt um die Förderung der Eigeninitiative von Mitarbeitern geht, in denen Strukturen flexibel und vermehrt zweckgerichtet mehr denn hierarchieorientiert sind, kommt da nicht genau den Stärken introvertierter Führungskräfte eine ganz neue Relevanz zu? Ist es auch in der Vorstellung einer perfekten Führungskraft Zeit für ein Umdenken und einen Paradigmenwechsel? Ich postuliere nicht die Überlegenheit des einen über das andere. Vielmehr legen die bis hierhin gemachten Erkenntnisse nahe, dass die Wahl von Führungskräften situativer erfolgen sollte. Vielleicht kann sogar über Doppelspitzen nachgedacht werden. Der Agilität sind ja 2020 keine Grenzen mehr gesetzt!

Egal ob introvertiert oder extrovertiert: Wichtig ist, dass jeder Mitarbeiter, jede Führungskraft, jeder Vorstand, jede Person ganz bei sich und seinen eigenen Stärken bleibt. Denn ganz egal was diese sind, wir können nur dann in unserer vollen Kraft für den gemeinsamen (Unternehmens-)zweck arbeiten, wenn wir in unserem eigenen Gewässer schwimmen (oder auf unserem eigenen Baum klettern, auf unserem eigenen Schiff segeln, zu unserer eigenen Musik tanzen,… ). 

In der Kombination der optimierten Stärken liegt die Chance für den Unternehmenserfolg. 

Quellen:

Susan Cain (2012): Quiet: The power of introverts in a world that can’t stop talking.

Psychologie heute Compact (2019): Ausgabe 57/2019 „Still und Stark“, insbesondere„Introvertierte sollten sich eine Bühne schaffen“: Interview mit Martin Wehrle.

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